Leb’ wohl, Hans! (eine Weihnachtsgeschichte)

Hans Klestorfer (Foto: Andreas H. Bitesnich)

lieber hans,

ich erinnere mich noch genau, wie wir das weihnachtsfest vor fünf jahren gemeinsam gefeiert haben. ich war gerade frisch verliebt und du warst hintergründig ruhig, wie immer. wir hatten gerade ein gemeinsames projekt “in arbeit”, wie so oft. es war das projekt “rezepte und tiere – ein buch für kinderlose väter.”

in diesem buch wollten wir einfache kochrezepte für geschiedene väter vorstellen, um unseren leidensgenossen das 14tägige treffen mit ihren kindern am wochenende zu erleichtern. es waren ganz einfache rezepte, “reis mit sauerrahm” zum beispiel, “weiches ei”, aber auch relativ komplizierte speisen wie “spaghetti bolognese” und “pizza”.

auf der anderen seite wollten wir tiere vorstellen. nicht einfach tiere, sondern tierpaare, also herrn und frau elefant, känguruh, seepferdchen, sowie katze und hund. im zuge der umfangreichen recherchen zu diesem projekt fanden wir heraus, dass frau elefant “kuh” genannt wird, frau hund “hündin” und frau katze “katze”. zur recherche über frau seepferdchen stießen wir nicht vor, denn wir beide waren, wie du es einmal treffend nanntest, “erfolgsverweigerer”. wir verweigerten konsequent jeden erfolg, zum preis, heimlich die größte freude an unseren niemals verwirklichten projekten zu haben.

jeden mittwoch vormittag saßen wir bei dir zusammen, um unser “mittwochsfrühstück” abzuhalten. bert langsteiner war stets dabei, von uns beiden liebevoll “lang” genannt. zu ihm schauten wir beide auf, nicht nur seiner größe wegen, sondern, weil er durchaus erfolgreich genannt werden durfte. er war und ist erfolgreicher fahrradbote, so wie du früher einer warst. “lang” hielt sich den mittwoch vormittag immer frei, um, so wie ich, gemeinsam mit dir zu frühstücken. ihr beide unterhieltet euch stets über eure fotografie, eure fahrräder und über gesundes essen. ich saß oft nur still daneben und genoss schweigend eure begeisterung. bianca und peter machten unser “mittwochsfrühstück” meist komplett.

weihnachten 2016 verbrachten wir also gemeinsam, ich von der liebe berauscht, du von der liebe ernüchtert. wie alle anderen verbrachten auch die meisten kinderlosen väter den heiligen abend bei ihrer familie. übrig blieben wir zwei.

so zogen wir uns zur feier des tages unsere besten klamotten an – ich selbstverständlich meinen dunkelblauen anzug, du selbstverständlich nicht – und aus, um in deinem alten kleinen militärbus zum friedhof der namenlosen aufzubrechen. in diesem kleinen graugrünen volkswagen-bus waren wir schon gemeinsam in rumänien gewesen, um dort für die caritas und die deutschen salvatorianer ihre projekte in temeschwar zu fotografieren.

mit dir im bus war es angenehm wie mit ganz wenigen sonst. hunderte kilometer zu zweit können anstrengend sein. meist redet einer zuviel und der andere zuwenig. wir beide redeten genau richtig füreinander, lieber weniger als mehr. noch lieber hörten wir beide zu, und sei es der stille.

so kamen wir nicht nur gemeinsam in rumänien, sondern am heiligen abend auch am “friedhof der namenlosen” an, der im südosten wiens am alberner hafen liegt. alles war dunkel, alles war still. nur auf dem kleinen friedhof brannten vereinzelt kerzen. wir beide saßen hinten im bus, ich hatte bier mitgebracht, du tee und suppe. es war das schönste weihnachten meines lebens.

danach gingen wir noch in die mette der caritasgemeinde der obdachlosen wiens. wie in jedem jahr nahm dort auch der kardinal teil. wir beide standen ganz hinten im dunkeln. zu mitte der messe ging ich nach vorne, um meine fürbitte zu lesen:

“lieber gott, bitte hilf allen missbrauchten buben und mädchen, wie maria ‘trotzdem ja zum leben’ zu sagen.” danach ging ich zu dir zurück nach hinten und fragte dich: “war ich verständlich?” du schautest mich an und sagtest: “du warst der einzige, der verständlich war.”

so warst du, lieber hans. niemals ein wort zuviel. aber auch selten ein wort zuwenig. mein weihnachtlicher liebesrausch verflog, deine verschmitze nüchternheit blieb. die mittwochsfrühstücke zogen weiter ins land, bis wir uns im letzten jahr zerstritten. ich hatte mit meiner freundin schluss gemacht und du warst darüber erzürnt. der darauf folgende kurze heftige streit endete in einem langen eisigen schweigen. dass dieses eisige schweigen nicht das letzte war, was uns verband, dafür danke ich gott. elf tage vor deinem tod wurden wir wieder freunde.

an diesem frühen dezembermorgen hatte es zu schneien begonnen. ich kam gerade unterhalb der capistrangasse vorbei, als ich dich vor deinem haus schnee schaufeln hörte. es war noch dunkel, und sonst war niemand unterwegs. ich ging zu dir, wir begrüßten uns und redeten kurz miteinander. nachdem ich gegangen war, drehte ich mich nochmals um und ging zu dir zurück: “weißt du, ich kann manchmal ein arschloch sein. es tut mir leid.” und du hast gelächelt und geantwortet: “oh, das ist schon lange vorbei…” und ich sagte: “ich möchte gerne, dass wir weiter freunde sind.” da hast du genickt und gemeint: “ja, sicher.” dann lächelten wir und verabschiedeten uns.

elf tage später, am montag, den 20. dezember 2021, bist du verstorben. nachdem du bei deinen kindern nicht wie verabredet erschienen warst, machten sich deine drei töchter auf die suche nach dir. als sie deine wohnungstüre aufsperrten, fanden sie dich. du warst tot.

aus unserem fotobuch für kinderlose väter ist, wie es sich für unsere projekte geziemt hat, bisher nichts geworden. ich werde hier unten weiterschreiben, mach du bitte die fotos von oben. wir könnten beim seepferdchen fortsetzen. ich glaube, frau seepferdchen heißt “stute”. und ihre kinder trägt der mann.

danke, hans! für alles. leb’ wohl, da drüben im bicycle land!

Hans Klestorfer: Frachtenbahnhof

12 thoughts on “Leb’ wohl, Hans! (eine Weihnachtsgeschichte)

  1. Danke Peter,
    für diese schönen Zeilen. Genau so werde ich Hans in Erinnerung behalten!

  2. Lieber Peter,

    das war jetzt richtig schön, deine Worte im weiten Netz zu finden. Ich war eine Freundin vom Hans, und wusste von ihm und eurem „Herrenfrühstück am Mittwoch“ …
    Da ich leider sonst zu keiner Person Kontakt habe die mit dem Hans in engerer Verbindung stand, würd ich mich wahnsinnig freuen, wenn du dich mal bei mir melden könntest. Vielleicht können wir dann ein Bier, das ich ihm sonst gern aus meiner tschechischen Heimat mitgebracht hätte, auf ihn gemeinsam trinken.

    Alles Liebe derweil,

    Natalie

Leave a reply to rowawian Cancel reply