Die fetten Jahre sind vorbei

Wer in seinem Leben bereits außerhalb Europas oder Nordamerikas gelebt hat, der wird erfahren haben, welchen immensen Schaden unser „westliches” Lebensmodell im Rest der Welt anrichtet. Wer außerhalb Europas und Nordamerikas bereits Urlaub gemacht hat, der wird erfahren haben, wie bequem und billig es ist, wie ein feudaler Kolonialherr behandelt zu werden.

Wer verstehen will, wie Kolonialismus im 21. Jahrhundert funktioniert, braucht sich nur an das Absperrgitter eines „westlichen” Ferienclubs zu begeben und von dort aus die Welt zu betrachten: Drinnen das Leben im Überfluss, draußen das Leben in Armut.

Wladimir Putin rüttelt gerade an diesem Zaun. Die militärische „Spezialoperation” Russlands in der Ukraine, die vom „Westen” Russlands „Angriffskrieg” genannt wird, ist der Versuch, den herrschenden Verhältnissen an der Grenze des „Westens” ein Ende zu bereiten.

Beginnen wir die Geschichte von vorne: Rund um das Jahr 1500 „christlicher” Zeitrechnung begann der weiße Mann, den entscheidenden Sprung der menschlichen Zivilisation zu machen. Erstmals in der Geschichte gelang es der menschlichen Kultur, in ihrem Drang nach Westen (Richtung Sonnenuntergang) den atlantischen Ozean zu überqueren und „die neue Welt“ zu besiedeln. In den folgenden 500 Jahren entwickelte der weiße Mann dort seine Vorstellung von „Freiheit” und „Demokratie” („Volksherrschaft”). Das Ziel dieses Anliegens war „the pursuit of happiness“, das „Streben nach Glück”.

Dieses „Glück” der „Freiheit” und „Demokratie” galt selbstverständlich ausschließlich für den weißen Mann. Alle anderen Menschen wurden ins Unglück gestürzt, egal, ob sie eine andere Hautfarbe oder ein anderes Geschlecht hatten. Diese Menschen hatten weder „Freiheit”, noch durften sie an der „Demokratie” teilhaben. Es folgte der größte Massenmord der Geschichte, die Ausrottung der „Native Americans”, samt Versklavung der „African Americans”. Die Auswüchse dieser Verbrechen sehen wir bis heute.

Der weiße Mann trieb seine „Kultur” der „Freiheit” und „Demokratie” 500 Jahre lang auf die Spitze. Seit damals kolonialisierte er die gesamte Welt. Waren es zunächst Glasperlen und Schießgewehre, mit denen er seine Gegner gefügig machte, so entwickelte er daraus im Laufe der Zeit den US-Dollar und Atombomben. Heute stehen wir vor der Tatsache, dass die Landeswährung der „Vereinigten Staaten von Amerika” die Basis jedes Geschäfts auf der Welt bildet und das Militär dieser „Vereinigten Staaten von Amerika” so viel kostet wie die Armeen der nächsten 10 Länder zusammengenommen und fast doppelt so viel wie die Armeen aller restlichen Staaten.

Bezahlt wird dieser immense Überfluss in den USA vom Rest der Welt. Durch die Basis des US-Dollar als globaler Leitwährung, in der jedes Geschäft auf der Welt abgewickelt wird, sorgen die „Vereinigten Staaten von Amerika” stets für den eigenen Vorteil. Der Gewinn wird eingestreift, der Verlust auf alle anderen aufgeteilt. Das zeigt sich wirtschaftlich in jeder Hinsicht. Während die Bevölkerung der USA 4 Prozent der Welt ausmacht, verbrauchen diese 4 Prozent der Menschheit 17 Prozent der weltweiten Energie. Deren Anzahl der weltweiten US-Dollar-Milliardäre beträgt 23 Prozent und deren Militärausgaben sogar 38 Prozent der Welt.

Der weiße Mann hat seine „Kultur” in den USA auf die Spitze getrieben – auf Kosten der übrigen Welt. Damit das auch so bleibt, hat der weiße Mann Systeme geschaffen, die den Fortbestand dieses Zustands garantieren. Wirtschaftlich sind dies insbesondere die Weltbank und der Währungsfonds, militärisch insbesondere die NATO, der „Nordatlantik-Pakt”. Weltbank und Währungsfonds sorgen dafür, dass das Buffet im Club der Reichen stets überquillt, während die Armen jenseits des Zaunes unter der „Schuldenlast” stets aufs Neue zusammenbrechen. Die NATO hingegen sichert den Zaun und versorgt ihn mit Strom.

Diesen „Ferienclub” des „Westens” kann man auf der ganzen Welt beobachten. Der weiße Mann sitzt fett am Tisch der klimatisierten Chefetagen, der Rest der Welt bedient ihn zum Preis, dafür Schulden in US-Dollar aufnehmen zu dürfen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte der weiße Mann des Nordwestens seine Herrschaft auf die halbe Welt ausgedehnt. Richtung Pazifik geschah dies über Japan und Korea bis nach Vietnam, Richtung Atlantik über Westeuropa bis nach Israel, Saudi Arabien und Persien.

Nachdem die Eroberung mittels Krieg in Vietnam und im Iran in den 1970er Jahren zu einem unrühmlichen Ende gekommen war, erfolgte in den 1980er Jahren die Unterwerfung mittels Wirtschaftskrieg. Mitte der 1980er Jahre kollabierte Lateinamerika, ein paar Jahre später Osteuropa. Der „Freizeitclub” des Nordwestens hatte gesiegt, das „Ende der Geschichte” schien erreicht. Wer sich diesem Club und seinen Spielregeln widersetzte, wurde vernichtet.

Die Regeln dieses Clubs galten selbstverständlich nicht für alle. Es war stets klar, wer der Herr und wer der Diener war. Das Kriterium war weiterhin Hautfarbe und Geschlecht, beides wurde ausgedrückt in „Geld”. Und dieses „Geld”, in Form des US-Dollar, wurde zum weltweiten Mittel, die Herrschaft des weißen Mannes auszubauen. Denn jeder wollte am Tisch der Reichen mitnaschen. Entschieden wurde darüber jedoch ausschließlich in Washington D.C., der Hauptstadt der USA, benannt nach dem erfolgreichen Sklavenhalter.

Nachdem die USA in den 1990er Jahren ihren Einfluss über den ganzen Globus ausgedehnt hatten, begann sich in den 2000er Jahren das Blatt zu wenden. Ausgehend von der muslimischen Welt des Nahen Ostens regte sich langsam der Widerstand gegen das System des US-Dollar. Daneben schottete sich die Volksrepublik China von diesem System ab und Russland begann sich unter Wladimir Putin zu stabilisieren, nachdem durch den Zerfall der Sowjetunion im Jahrzehnt zuvor ein politisches, wirtschaftliches und rechtliches Vakuum entstanden war.

Im „Westen” können sich nur die wenigsten Menschen vorstellen, welchen Preis das System des US-Dollar der Welt abverlangt. Der ehemalige „Ostblock” wurde, wie zuvor schon Lateinamerika (und Afrika), zum rechtsfreien Raum, in dem die größten Verbrecher in mafiösen Strukturen die Oberhand gewannen, wie bereits in den Jahrhunderten zuvor in den USA bis in den „Wilden Westen”.

War die Kapitulation der Sowjetunion unter Michael Gorbatschow für den „Westen” ein Segen, so war sie für Russland selbst „die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts”, wie es Wladimir Putin im Gespräch mit Angela Merkel einmal nannte. So rückte der „Westen” mit NATO und EU nach dem Zusammenbruch des „Ostblocks” über die Grenze der ehemaligen Sowjetunion vor. Somit sind wir beim Ukraine-Krieg angelangt.

Wladimir Putin hatte im Jahr 2007 auf der Münchener Sicherheitskonferenz eine Rede gehalten, die im Nachhinein als „historisch“ bezeichnet werden kann. In dieser Rede kritisierte er ganz klar und eindeutig die einseitige Vormachtstellung der USA. Und er schloss seine Rede mit dem Satz: „Und selbstverständlich würden wir gerne mit ebenfalls unabhängigen und verantwortungsvollen Partnern zusammenarbeiten, um eine gerechte und demokratische Weltordnung zu schaffen, die Sicherheit und Wohlstand nicht nur für wenige Auserwählte gewährleistet, sondern für alle.“

Jetzt sehen wir die Konsequenz daraus. Wo endet das Einflussgebiet der USA – und wo beginnt die Welt außerhalb davon? Wo endet das Gebiet der „wenigen Auserwählten“ – und wo beginnt die Welt aller anderen? Wo endet die Vormachtstellung des „Westens“ – und wo beginnt „der Rest der Welt“, der dafür zu zahlen hat?

Liegt die Ukraine am Nordatlantik? Einzig um diese Frage dreht sich der gesamte Ukraine-Konflikt. Die USA wollten über diese Frage nicht verhandeln. Die Antwort wird nun auf dem Schlachtfeld gegeben. Ich fürchte, dass Europa dabei zerrieben wird.

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