“Wir werden diese Welt nicht lebend verlassen”

„Wir werden diese Welt nicht lebend verlassen.“

Nach einem Satz von Dietmar Schoder
und einem Bild von Roman Picha

peter wurm, roman picha

(Erstes Bild von 12)

Für Christianus X. Rex, König von Dänemark, Generalmajor Henning von Tresckow, die Bevölkerung von Lidice, Hans und Sophie Scholl, sowie meinen Freund Hans Marsalek

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(Wien, Taborstraße, 13. März 1938)

Goldberger, komm!“

Ja, ich komm’ schon! Der meschuggene Koffer is’ so schwer.“

Was nimmst’ denn auch so viel mit!“

Ja, was soll’ ich machen? Die Bücher…“

Bücher mitnehmen… So ein Tinnef! Glaubst’ nicht, dass wir uns in New York welche kaufen können?“

Ja, eh. Aber ich kann nicht Englisch.“

Der Neubauer is’ wahrscheinlich schon dort. Der weiß sicher, wo’s eine deutsche Buchhandlung gibt.“

Eine deutsche Buchhandlung? Gott soll abhüten! Die schicken uns am End’ noch zurück!“

Bist du meschugge? Der Roosevelt wird das verhindern.“

Ich weiß nicht. Ich geh’ lieber auf Nummer sicher.“

Mit den zwanzig Büchern? Was hast’ denn überhaupt mit?“

Na, den Talmud, die Bibel und den Koran.“

Den Koran??? Goldberger, du bist meschugge!!!“

Na, man weiß nie! Am End’ sind das lauter Moslems auf Liberty Island.“

Ja, möglich. Aber da hilft dir der hebräische Koran auch nix!“

Na, ein bissl Völkerverständigung schadet nicht. Vielleicht kann ich sie ja überzeugen.“

Von was?“

Von Moses und Aron zum Beispiel.“

Das is’ ja überhaupt noch nicht fertig!“

Is’ aber trotzdem so dick.“

Hast die Partitur auch mit?“

Ja, sicher. Deswegen is’ ja der Koffer so schwer.“

Ein Klavierauszug hätt’s auch getan.“

Ganz mei’ Red’! Aber ich hab keinen.“

Geh’, vergessen wir das Ganze! Lassen wir die Koffer da!“

Naja, vielleicht hast Recht. Die Nazis brauch’n eh was für die Bücherverbrennung.“

Komm’, leisten wir ihnen Entwicklungshilfe!“

Ja. Machen wir das!“

(Goldberger bleibt stehen, öffnet den Koffer und leert seinen gesamten Inhalt auf die Straße.)

Da, schau’! ‘Die Welt von gestern.’ Und ‘Die Schachnovelle’ is’ auch dabei.“

Die is’ ja noch gar nicht geschrieben!“

Deswegen verbrennen’s sie ja!“

Komm, Goldberger. Schleichen wir uns! Es ist überall besser als hier.“

Wo du Recht hast, hast du Recht, Wolff. Warum glaubst’ sind die Pilgerväter drüben geblieben?“

Und was haben sie für Bücher mitgehabt?“

Die Englische Verfassung.“

Die gibt’s ja gar nicht.“

Eben.“

(Goldberger bleibt abrupt stehen, richtet sich auf und schüttelt Wolff die Hand.)

Sehr geehrter Herr Wolff, herzlich willkommen in den Vereinigten Staaten!“

Was, da auf der Taborstraße? Goldberger, pflanz’ mich nicht!“

(Goldberger verbeugt sich feierlich.)

Dear Mister Wolff, welcome to the pursuit of happiness.“

Da in der Leopoldstadt? Goldberger, was soll’ das?“

(Goldberger breitet beide Arme aus.)

Yes, Sir! This here is the pursuit of happiness. Why not?“

Goldberger, wenn’st jetzt zum halluzinier’n anfangst’, dann ham’s uns gleich!“

Is Mister Freud already in London?“

Ich weiß nicht, aber das is’ mir jetzt eher wurscht!“

But he could heal me. Der könnt’ mich heilen.“

Geh, bitte! Pfeif’ auf den Freud. Wir brauchen einen Zug nach Warschau.“

Warschau? Warum gerade Warschau?“

Weil das der einzige Zug is’, der noch geht.“

Geh, pfeif’ auf Warschau! Bleiben wir hier!“

Hier? Auf der Taborstraße?“

Ja. Geh’n wir wieder heim ins Servitenviertel.“

Heim? Goldberger! Reiß’ dich zusammen!“

Ich mag nicht mehr.“

Goldberger!“

Nein, Wolff. Wir werden diese Welt nicht lebend verlassen.“

Was?“

Noch einmal zum Mitschreiben, Wolff: Wir werden diese Welt nicht lebend verlassen.“

Goldberger, ich bin nicht aufgelegt auf diese Späße jetzt!“

Das is’ kein Spaß; das ist die Wahrheit.“

Was is’ die Wahrheit?“

Wir werden diese Welt nicht lebend verlassen.“

Geh, Goldberger!“

(Wolff hält inne, betrachtet die Bücher und schweigt lange.)

Stimmt aber eigentlich. Hast’ Recht, Goldberger. Pfeifen wir drauf!“

Eben, Wolff. Das is’ genau das Problem. Wir werden diese Welt nicht lebend verlassen.“

Hast’ eigentlich wirklich Recht, Goldberger. Is eh ein recht schöner Satz: Wir werden diese Welt nicht lebend verlassen.“

Siehst’, Wolff. Genau darum geht’s. Gehen wir heim!“

Ja, Goldberger. Hast’ Recht. Gehen wir heim.“

Und dann drehen wir den Gashahn auf und schlafen ein.“

Ja. Das machen wir. Wir schlafen einfach ein. Vielleicht mit Musik.“

Legen wir uns einen Mendelssohn auf’s Grammophon und schlafen wir ein!“

Die ‘Italienische’. Und büseln weg.“

Oder die ‘Tannhäuser’-Ouvertüre. Die werden’s in Auschwitz auch noch spielen!“

Ja, gehen wir ins Gas!“

Ja, machen wir das, Wolff!“

Ja, das machen wir, Goldberger!“

Danke Dir, Wolff!“

Danke Dir, Goldberger!“

Beglückt darf nun dich, o Heimat, ich schauen
und grüßen froh deine lieblichen Auen;
nun lass ich ruhn den Wanderstab,
weil Gott getreu ich gepilgert hab
!“

(Beide singend Richtung Karmelitermarkt ab. Vorhang.)

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