Sehr geehrter Herr Präsident, lieber Harald Mahrer!
Wie Sie wissen, halte ich Sie für einen der wenigen kompetenten Wirtschaftspolitiker in unserem Land. Ich tue dies, im Gegensatz zu den meisten anderen „Linken“ dieses Landes, weil ich den Grundsatz Ihrer Wirtschaftspolitik außerordentlich schätze. Es ist der eigentliche Grundsatz der Volkspartei, der Grundsatz des Ausgleichs scheinbar gegensätzlicher Interessen. Diese ausgleichende Position der „Mitte“ ist in der Volkspartei durch ihre bündische Struktur quasi in den Genen verankert. Solange die ÖVP diesen Grundsatz des Ausgleichs hochhält und ihre Politik nicht zur korrupten Bedienung der eigenen Klientel verkommt, bin ich Ihr größter Fan.
Dieser Grundsatz des Ausgleichs liegt uns Österreichern im Blut. „Heiß umfehdet, wild umstritten, liegst dem Erdteil Du inmitten“, heißt es in unserer Bundes(!)hymne, „einem starken Herzen gleich.“ Diese geographische Position zwischen den Blöcken von Ost und West, samt deren gegensätzlichen Interessen, führt geradezu zwangsläufig zu einer Politik des Ausgleichs. Unser Bundespräsident hat dies bei der Angelobung zu seiner zweiten Amtszeit als die „Kunst des Kompromisses” beschrieben. Ich selbst würde es eher „Konsens“ nennen, aber das sei nur am Rande bemerkt.
Der Grund, warum ich Ihnen heute schreibe, ist die Wirtschaftspolitik unseres Landes, für die Sie, zu meiner Wertschätzung, ein hohes Maß an Verantwortung tragen. Wir befinden uns in Europa in einer multiplen Krise, der größten seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Ursachen dafür sind vielfältig, lassen sich jedoch insgesamt auf „die Wirtschaft” zurückführen. Im Grunde ist unser „Wirtschaften” ein Verteilungskampf um die weltweiten Ressourcen. Dieser Kampf spitzt sich immer mehr zu, insbesondere auch bei uns in Europa.
„Diese Wirtschaft tötet”, schreibt Papst Franziskus in „Evangelii Gaudium“. Er hat Recht. Warum ist das so? Hier ist meine kurze Analyse samt Lösungsvorschlag dazu:
Wenn Sie diesen kurzen Artikel gelesen haben, dann werden Sie die Mechanismen verstehen, die diesen brutalen Verteilungskämpfen zu Grunde liegen, bis hin zu Armut, Flucht, Vertreibung und Krieg. Diese Mechanismen wirken global, ihre Auswirkungen werden in den Ländertabellen anschaulich gemacht.
Ein Österreicher beispielsweise produziert im Durchschnitt Energie für 36,99 Kilogramm Brot pro Tag. Er erhält jedoch Geld für 79,24 Kilogramm Brot pro Tag.
Ein Syrer dagegen produziert im Durchschnitt Energie für 4,19 Kilogramm Brot pro Tag. Er erhält jedoch Geld für nur 0,83 Kilogramm Brot pro Tag.
Lieber Harald Mahrer, ich traue Ihnen, als einem der ganz wenigen Menschen in unserem Land zu, die Konsequenzen dieser Analyse auf Anhieb zu begreifen. Es kommen unglaublich schwere Zeiten auf uns zu, und wir beide wissen, dass das Ende der „Krise“ noch lange nicht erreicht ist. Eine Politik des Ausgleichs ist in diesen Zeiten der Krise notwendiger denn je. Gleichzeitig ist sie unendlich schwieriger als sonst, denn es gibt nichts zu verteilen, außer Opfer. Im Sinne Winston Churchills habe ich Ihnen nichts anzubieten außer blood, toil, tears and sweat.
Österreich war immer dann am stärksten, wenn es uns gelungen ist, zwei gegensätzliche Pole in der Mitte zu vereinen. Heute heißen diese Pole außenpolitisch USA und China, sowie Russland und Ukraine, innenpolitisch „Links“ und „Rechts“, sowie „Arbeitgeber“ und „Arbeitnehmer“. Die hohe Kunst der österreichischen Politik war es immer, beide Seiten an einen Tisch zu bringen und somit den (politischen wie sozialen) Frieden herzustellen. Das ist heute notwendiger denn je seit dem Zweiten Weltkrieg.
Die politischen Verantwortungsträger unserer Generation scheinen dieser Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Bis hin zu Vranitzky und Mock in Österreich, Kohl und Genscher in Deutschland, sowie Bush Senior und Baker in den USA haben unsere politischen Verantwortungsträger noch gewusst, welche zivilisatorische Katastrophe „Krieg“ bedeutet. Unsere heutigen Politiker haben offensichtlich nichts anderes erfahren als ihre warme Kinderstube. Dementsprechend unfähig sind sie, gegensätzliche Standpunkte zu verstehen und in Dialog zu bringen. Unter deren Führung taumeln wir blinden Auges in den Abgrund.
Solange dieser Abgrund ein rein wirtschaftlicher ist, soll es mir Recht sein, so schlimm dieser auch sein mag. Ob ich Ihnen, lieber Harald Mahrer, eine diesbezügliche Lösungskompetenz zutraue, weiß ich, ehrlich gesagt, nicht. Was ich Ihnen jedoch jedenfalls zutraue, ist, das zugrunde liegende Problem zu verstehen.
Der große Regisseur Billy Wilder hatte hinter seinem Arbeitstisch einen Spruch angebracht: „How would Lubitsch do it?” Ihnen, sehr geehrter Herr Präsident, möchte ich heute den folgenden Gedanken nahelegen: „How would Raab do it?“
Und so flüstere ich Ihnen zum Abschluss zu: „Und jetzt, Mahrer – jetzt noch den Globo, dann san’s waach!“

Mit herzlichem Dank für Ihre Arbeit und in freudiger Erwartung Ihrer Antwort verbleibe ich
mit sehr herzlichen Grüßen
Ihr
Peter H. Wurm
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