
Lesung des Textes für meinen Vater:
Am 3. Dezember 2021 verstarb der Kämmerer des Stifts Klosterneuburg, Walter Simek, im 87. Lebensjahr. Das Stift Klosterneuburg wurde unter seiner wirtschaftlichen Führung eines der reichsten Klöster Europas. Anhand dieses Beispiels möchte ich darlegen, wie die Römisch-Katholische Kirche hinter den Kulissen funktioniert:
Walter Simek war mein heimlicher Stiefvater. Er repräsentierte alles, was die Römisch-Katholische Kirche auch ausmacht: Prunk, Arroganz, Dünkel, Selbstgerechtigkeit, Feigheit, Intrige, Heuchelei, Manipulation, Missbrauch und Lüge. Jesus selbst hat uns vor Menschen wie ihm gewarnt:
“Hütet euch vor den Schriftgelehrten! Sie gehen gern in langen Gewändern umher, lieben es, wenn man sie auf den Straßen und Plätzen grüßt, und wollen in den Gotteshäusern die vordersten Sitze und bei jedem Festmahl die Ehrenplätze haben. Sie bringen die Witwen um ihre Häuser und verrichten in ihrer Scheinheiligkeit lange Gebete. Aber um so härter wird das Urteil sein, das sie erwartet.” (Lk 20,46f)
Walter war der Seelsorger, den meine Eltern in höchster Not aufgesucht hatten, um sich bei ihm Trost und Rat zu holen. Er empfahl ihnen die Trennung. Daraufhin verließ mein Vater die Familie, meine Mutter, meinen Bruder und mich. Was danach geschah, habe ich in meiner Erzählung “Sinnlos” so beschrieben:
Ich war erstaunt, als wir zusammen mit Columban im Jahr 1991 zu viert für einen Kurzurlaub wieder einmal in Rom waren und meine Mutter sich – anders als jemals zuvor – das Zimmer mit ihm teilte. Ich war verwundert, als ich dann in unserem Wohnzimmerschrank seine Briefe an meine Mutter fand. Ich war entrüstet, als er mir bei einem darauf folgenden Telefonat erzählte, dass er mit meiner Mutter “nicht nur ins Theater und in die Oper, sondern auch ins Bett gehen” würde. Und ich brach mit ihm, als er, nachdem ich nach Jahren der Verbannung meinen Vater wieder zu mir nach Hause geholt hatte, zu mir am Telefon meinte: “Das Beste für alle Beteiligten, insbesondere für ihn selbst ist, wenn Dein Vater bald stirbt.”
Heute spielt Columban den Großvater meiner beiden Kinder, der mit ihnen zum Skiurlaub und in die Sommerferien an die italienische Adria fährt, der meiner Mutter antike Möbel schenkt und der meine Kinder auf drängenden Wunsch meiner Mutter kurz vor ihrem Schuleintritt getauft hat. Meinen Vater dagegen haben meine Kinder in ihrem Leben nur zweimal ganz kurz gesehen und dabei kein einziges Mal mit ihm gesprochen.
Dafür erzählte mir Mamas Columban vor Jahren frei heraus “sexuell ist nicht mehr so viel los wie früher” und sorgt als Ordensmann bei einem der größten Grundbesitzer Österreichs für Entscheidungen, bei denen sich die verblüffte Öffentlichkeit fragt, was denn das mit dem Christentum zu tun hat. Armut, Keuschheit, Gehorsam – mehr Gelübde kann man als Ordensmann gar nicht brechen.
(Peter Wurm: “Sinnlos“, Edition Sonnberg, Wien 2016)
Es gäbe noch Manches darüber zu erzählen, was jedoch nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Ich kann daher hier nur von meinen eigenen Erfahrungen schreiben, und auch dies nur begrenzt.
Walter trat in unserem familiären Kreis seit meiner Kindheit grundsätzlich nicht als Priester auf, sondern als Privatperson. Im Regelfall warteten wir nach der Messe am Samstagabend im Auto auf dem Stiftsplatz, bis Walter, nun in Zivilkleidung, bei uns einstieg und auf dem Beifahrersitz Platz nahm. So verbrachten wir die Abende, oft auch unter der Woche, stets zu viert. Auch beim sonntäglichen Mittagessen war Walter immer dabei, darüberhinaus bei unseren Urlauben.
Wir wussten als Kinder nie, wie wir damit umgehen sollten. Wer durfte von diesem Verhältnis wissen und wer nicht? Im Zweifel waren wir angehalten zu verheimlichen, zu heucheln und zu lügen, sogar gegenüber unserem Vater. Manche Freunde meiner Mutter wussten Bescheid, andere durften davon nichts wissen. Es war für mich als Kind die Hölle. Zweimal war ich gemeinsam mit ihm ohne meine Familie auf Urlaub gewesen.
Im Jahr 2011 wandte ich mich endlich an Walters einzigen Vorgesetzten, den Propst des Stiftes, Bernhard Backovsky. Dieser weigerte sich, mich anzuhören. Daraufhin schilderte ich meine Geschichte dem Erzbischof von Wien, Kardinal Christoph Schönborn. Dieser ließ mir ausrichten, dass der Bischof nicht zuständig sei und verwies mich “für wirklich gravierende Umstände” an die Ordenskongregation in Rom. Ein Jahr später trat Joseph Ratzinger als Papst Benedikt zurück. Sein Nachfolger Jorge-Mario Bergoglio wartete sieben weitere Jahre, bis Propst Bernhard Backovsky im Frühjahr 2020 “aus gesundheitlichen Gründen” zurücktreten musste.
Nach einer päpstlich beauftragten Untersuchung im Sommer wurde Papst Benedikts ehemaliger Sekretär, Kurienbischof Josef Clemens, zum päpstlichen Delegaten für das Stift Klosterneuburg ernannt. Diese Bestellung wurde am Tag des Heiligen Leopold, des Gründers des Stifts Klosterneuburg, veröffentlicht. Dem Kurienbischof sollte vor Ort ein Administrator zur Seite gestellt werden. Somit durfte das Stift seit letztem Jahr keine eigenständigen Entscheidungen mehr treffen. Dieses Vorgehen war ohne Beispiel, es erfolgte erstmals in der Geschichte der Kirche.
Zunächst war der Altabt des Stifts Heiligenkreuz, Gregor Henckel-Donnersmarck als Administrator für das Stift Klosterneuburg vorgesehen. Nachdem seine Bestellung am 22. April 2021 veröffentlicht wurde, ließ ich ihm am nächsten Tag in Heiligenkreuz meine Informationen über Walter Simek zukommen. In einem darauffolgenden Telefonat erklärte er mir, dass er sich diesem Fall nicht gewachsen sehe. Am 3. Mai 2021 wurde dann veröffentlicht, dass Gregor Henckel-Donnersmarck sein Amt “aus gesundheitlichen Gründen” nicht antreten werde.
Nach fieberhafter Suche wurde ein anderer Altabt gefunden, der sich bereit erklärte, das Amt des Administrators zu übernehmen. Es war der ehemalige Propst des Stiftes Herzogenburg, Prälat Maximilian Fürnsinn, der am 1. Juli 2021 sein Amt antrat. Der Fall Walter Simek wurde nach Absprache mit Rom umgehend an die Stabsstelle für Missbrauchs- und Gewaltprävention und die Ombudsstelle für Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche der Erzdiözese Wien ausgelagert. Am 12. November 2021 ersuchte ich dann die Stabsstelle um ein Gespräch mit Walter vor Zeugen. Ende November wurde das Stift Klosterneuburg um eine Stellungnahme gebeten. Am 6. Dezember kam die Antwort, dass Walter Simek vor drei Tagen verstorben sei.
Das Stift Klosterneuburg verabschiedet sich mit folgenden Worten:
“Das Stift Klosterneuburg verliert in Walter einen ,tüchtigen und treuen Diener seines Herrn’ (vgl. Mt 25,21), einen zuverlässigen und zugleich nüchternen und begeisterten Seelsorger, Wissenschafter und Wirtschafter; die Mitbrüder werden ein beispielgebendes Vorbild an klösterlicher Disziplin und mitbrüderlicher Liebe vermissen müssen, alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter danken einem großen Förderer ihrer aller Arbeit.”
Was soll man davon halten, wenn man die Hintergründe kennt? Eine Woche nach Walters Tod stand ich vor seinem aufgebahrten Leichnam. Als er so blass einbalsamiert im dunklen Kreuzgang des Stifts Klosterneuburg vor mir lag, dachte ich an Jesus, wie er im Tempel predigte:
“Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr gebt den Zehnten von Minze, Dill und Kümmel und lasst das Wichtigste im Gesetz außer Acht: Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue. Man muss das eine tun, ohne das andere zu lassen. Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr haltet Becher und Schüsseln außen sauber, innen aber sind sie voll von dem, was ihr in eurer Maßlosigkeit zusammengeraubt habt. Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr seid wie die Gräber, die außen weiß angestrichen sind und schön aussehen; innen aber sind sie voll Knochen, Schmutz und Verwesung. So erscheint auch ihr von außen den Menschen gerecht, innen aber seid ihr voll Heuchelei und Ungehorsam gegen Gottes Gesetz. (Mt 23,23ff)
Und beim Hinausgehen kam mir nochmals Jesus im Tempel in den Sinn:
“Als Jesus den Tempel verlassen hatte, wandten sich seine Jünger an ihn und wiesen ihn auf die gewaltigen Bauten des Tempels hin. Er sagte zu ihnen: Seht ihr das alles? Amen, das sage ich euch: Kein Stein wird hier auf dem andern bleiben; alles wird niedergerissen werden.” (Mt 24,1f)
“Ihr könnt nicht beiden dienen, Gott und dem Mammon.” (Mt 6,24)
Farewell, Walter! Ruhe in Frieden, wo auch immer Du jetzt bist.
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