
Der Fall von Kabul ist nichts weniger als das Ende der westlichen Vorherrschaft über den Osten und das Ende der (Post)Moderne auf unserem Planeten.
Wer es nach 20 Jahren Besatzung nicht geschafft hat, die Bevölkerung so zu gewinnen, dass sie mehr als wenige Tage die westlichen Werte der unbegrenzten Freiheit verteidigt, der muss sich grundsätzliche Gedanken über sein Weltbild machen.
Der Herausgeber des Wiener FALTER, Armin Thurnher, schreibt zum Fall Afghanistans: “Das afghanische Paradox ist ein Beispiel dafür, dass die Mehrzahl der Menschen sich offenbar von Islamisten mehr verspricht als von einem westgestützten, korrupten Regime.”
Das führt zu der Frage: Was bedeutet “westgestützt”?
Wir sprechen stets von “westlichen Werten”. Was sind diese “westlichen” Werte? Der höchste “westliche” Wert ist die Freiheit. Was heißt das aber?
Freiheit ist der Zustand der Entscheidungsfreiheit, Freiheit ist der Zustand der Wahlfreiheit. Wie kann dies gemessen werden?
Die Wahlfreiheit aus einer Alternative bedeutet Zwang. Die Wahlfreiheit aus zwei Alternativen stellt uns vor ein Dilemma. Die Wahlfreiheit aus drei Alternativen schenkt uns Freiheit. Ab der vierten Alternative beginnt das Chaos.
Die “Wahlfreiheit” des “Westens” ist dazu verkommen, dass man im Supermarkt aus Dutzenden verschiedenen Sorten von Joghurt wählen kann und wir hunderte Kleidungsstücke unser Eigen nennen. Die “Entscheidungsfreiheit” wird dadurch jedoch nicht erhöht, ganz im Gegenteil.
Die Wahlfreiheit des Westens hat Afghanistan ins Chaos geführt. Zum Schluss blieb den Afghanen nur noch die Wahl zwischen Chaos und Zwang. Die schier unendlichen Alternativen des Westens wurden gegen die Alternativlosigkeit der Taliban abgewogen. Das Chaos hat in Afghanistan kapituliert, der Zwang hat triumphiert.
Wenn unbegrenzte Freiheit darüberhinaus bedeutet, dass sich der Reichere nehmen darf, was er will, dann wird damit auch das Recht des Menschen mit Füßen getreten. Das Scheitern der Reichsten lässt nun die Ärmsten hilflos zurück. Im Fall Afghanistans sind dies, wie immer, die Kinder, ganz besonders die Mädchen. Ihr ohnmächtig trauriges Schicksal ist heute jenseits aller Worte.
Was können wir daraus lernen? Die Freiheit hat Grenzen und löst sich selbst auf. Mit Friedrich August von Hayek, dem gnadenlos selbstgerechten Theoretiker der Freiheit, ist in Afghanistan auch der US-Dollar, die Währung der Freiheit im Sumpf seiner Korruption versenkt worden. Zwei Billionen(!) US-Dollar haben 120.000 Tote gebracht. Sonst nichts, überhaupt nichts.
Die unbegrenzte Freiheit gibt es nicht, sie verkehrt sich zwangsläufig in ihr teuflisches Gegenteil. Der “Westen” hat Afghanistan in seiner Maßlosigkeit ins völlige Chaos gestürzt. Jetzt regiert der Zwang. Europa wäre gut beraten einen Mittelweg zu finden. Vielleicht retten wir wenigstens unsere eigenen Kinder.
—
