Brief an den Herausgeber der Wiener Wochenzeitung FALTER, Armin Thurnher:
Lieber Armin Thurnher!
Gerade habe ich das Ö1 Essay vom Freitag nachgehört, in dem aus Ihrem Buch „Anstandslos“ gelesen wurde. Dieser Ausschnitt war, wie bei Ihren Texten immer, außergewöhnlich klug in seiner umfassend gebildeten Analyse. So versuche ich zu ergründen, welche Grundsätze Sie antreiben:
Erstens scheinen Sie im Zweifel stets „moralisch“ zu begründen, das heißt, mit dem „Sollen“ zu argumentieren. Die dahinterliegende Frage lautet „Wie soll die Welt sein?“ Daher verteidigen Sie Immanuel Kant, die Grundlage der europäischen Aufklärung, auch gegen seine Meuchler.
So stehen Sie auf der festen Basis, dem „Wir“ den Vorzug gegenüber dem „Ich“ zu geben. Dieser Primat der Politik vor der Wirtschaft eint sie mit der sogenannten „Linken“ von Karl Marx bis Michael Landau. Demgegenüber stehen die „Rechten“, die den Konzernen das Vorrecht gegenüber dem Staat zuschreiben wollen. Deren Vertreter reichen von Adam Smith bis hin zu Sebastian Kurz.
Ich stehe im Zweifel auf Ihrer Seite. Ich denke, dass das allgemeine Wohl letztendlich wichtiger ist als das individuelle. Die „Freiheit“ des einzelnen endet immer bei der „Freiheit“ des anderen. Und diese Freiheit „des Anderen“ haben „Wir“ zu schützen. Die Alternative dazu wäre in der Politik die Tyrannis und in der Wirtschaft das Monopol. Der freie Staat endet ebenso wie der freie Markt in der Diktatur. Das „Ich“ ist wegen des „Du“ vom „Wir“ in die Schranken zu weisen. Das „Ich“ darf nicht „Alles“.
Ausgehend von dieser „aufgeklärten“ Grundlage ziehen Sie jedoch Schlüsse, die nicht zwingend, sondern meiner Ansicht nach sogar irreführend sind. Die Antwort auf die Frage des „Dürfens“ ist nicht zwangsläufig das „Sollen“. Einfach gesagt stellt sich die Frage, was geschieht, wenn jemand tut, was er nicht darf. Was geschieht, wenn jemand das „Recht“ verletzt?
„Du darfst das nicht!“ Warum?
Sie argumentieren nun „moralisch“. Sie antworten: „Weil Du nicht sollst.“ Sie antworten quasi religiös. Ich hingegen bleibe amoralisch auf dem Grundsatz: „Weil Du nicht darfst.“ Das „Recht“ ist zwar „moralisch“ begründet, genügt sich jedoch selbst. Es geht nicht darum, dass der andere „böse“ ist. Es geht darum, dass er „im Unrecht“ ist.
So sind wir auch Sebastian Kurz losgeworden. Es ging nicht darum, dass er „böse“ war. Es ging darum, dass „Wir“ im „Recht“ waren. Sebastian Kurz ist nicht zurückgetreten, weil er korrupt war. Er ist „zur Seite getreten“, weil er sonst abgewählt worden wäre. „Wir“ hatten nicht die „Moral“ auf unserer Seite, sondern einfach das „(Verfassungs)Recht“. Politik ist ein beinhartes Geschäft, und das will gelernt sein. Es ging beim „Kurzschluss“ nie um Moral.
Was folgt daraus? Sie, lieber Armin Thurnher, beklagen „das Böse“ in der Welt. Es zeigt sich aus Ihrem Blinkwinkel heraus anhand der „bösen“ Donald Trump, Elon Musk, Sebastian Kurz, Herbert Kickl und Wladimir Putin. Am liebsten hätten Sie all jene von „uns“ in die Schranken gewiesen. Mit welchem „Recht“?
Wer wäre das „Wir“, das Donald Trump, Elon Musk, Sebastian Kurz, Herbert Kickl und Wladimir Putin in die Schranken weist? Bei Sebastian Kurz war dieses „Wir“ der österreichische Nationalrat, der Gesetzgeber unserer Republik, die Volksversammlung unserer repräsentativen Demokratie. Dessen drohender verfassungsrechtlich begründeter „Misstrauensantrag“ hat Sebastian Kurz aus dem Amt gefegt. Wer wäre dieses „Wir“ auf globaler Ebene?
Bei Donald Trump und Elon Musk ist die Frage leicht zu beantworten: Sie haben sich an die US-amerikanische Verfassung zu halten, konkret an das Wahlrecht und das Unternehmensrecht der USA. That’s it. Nada mas. Und solange sie das tun, werden sie schalten und walten, wie es ihnen gefällt – ob es Ihnen, lieber Armin Thurnher, behagt oder nicht. Sie können noch endlos lange den „moralischen Zeigefinger“ erheben, es wird Ihnen nichts nützen. Solange Donald Trump und Elon Musk „im Recht“ sind, ziehen Sie mit Ihrer „Moral“ den Kürzeren. Und das ist gut und recht so – und sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein und bleiben. Dasselbe gilt klarerweise für Herbert Kickl in Österreich, so leid es mir tut.
Was aber machen „Wir“ mit Wladimir Putin? Wer wäre dieses „Wir“, auf das wir uns berufen? Das einzige „Wir“, das vorstellbar ist, sind die Vereinten Nationen, die UNO. Einzig die „Vereinten Nationen“ hätten das „Recht“, Wladimir Putin in die Schranken zu weisen. Niemand sonst hat dieses Recht, nicht der sogenannte „Internationale Strafgerichtshof“ (den nicht einmal die USA anerkennen), nicht die „westliche Wertegemeinschaft“, nicht die EU, und schon gar nicht die NATO.
Was machen wir also nun, wenn die Vereinten Nationen die russische „Spezialoperation“ in der Ukraine, den russischen „Angriffskrieg“ explizit nicht verurteilen? Genau diese Frage wird gerade im Krieg um die „Ukraine“ entschieden. Wer hat „Recht“ in diesem Krieg? Wer hat „Recht“ in irgendeinem Krieg?
Und damit komme ich auf die Grundlage unseres „Rechts“ zurück: Wer ist das „Wir“, das das „Ich“ in die Schranken weisen darf? Darf Putin Selenskij in die Schranken weisen oder Selenskyj Putin? Wer von beiden hat „Recht“? Und wer wäre das „Wir“, das zu beurteilen ?
Was darf das „Ich“ auf Kosten des „Du“, und was darf es eben nicht? Was darf der Mensch, und was darf er eben nicht? Und wer darf darüber richten? Diese Fragen sind so alt wie die Menschheit selbst. Sie wurden seit Alters her von den „Religionen“ moralisch beantwortet und seit Kurzem von den „Vereinten Nationen“ in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ juristisch. Was darf das „Ich“ gegenüber dem „Du“ – und was darf andererseits das „Wir“ gegenüber dem „Ich“? Wer hat welches Recht bei seinem Handeln? Wer wäre andererseits die Instanz, dieses Recht durchzusetzen und Unrecht zu sanktionieren? Und mit welcher Gewalt dürfte dies geschehen?
So stellt sich bei jedem menschlichen Konflikt die grundsätzliche Frage: Was darf der Mensch im Rahmen des „Rechts“? Welche Gewalt ist „berechtigt“? Und wer darf dies beurteilen?
Und so läuft jede Diskussion über das menschliche Handeln, jede Diskussion über „Sollen“ und „Dürfen“, jede Diskussion über das „Wir“ und das „Ich“, jede Diskussion über „Frieden“ und „Krieg“, jede Diskussion über „Recht“, „Unrecht“ und „Gewalt“, jede Diskussion über die „allgemeinen Menschenrechte“, „politisch“ wie „privat“, vom „Naturrecht“ bis zum „Gesellschaftsvertrag“, juristisch, moralisch, kulturell und religiös, seit Urzeiten auf eine einzige Frage hinaus:
Hat der Mensch das Recht, seine Kinder zu beschneiden?
Alles andere folgt daraus. Wirklich alles.
Liebe Grüße an das „Ding an sich“!
Schönen Sonntag!
PHW
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