
Seiner Exzellenz
Bischof Hermann Glettler
Domplatz 5
AT-6020 Innsbruck
Hochwürdigste Exzellenz, lieber Bischof Hermann!
Mit großem Interesse und größter Sympathie habe ich Ihre Predigt zu Allerheiligen zum Thema “Sterbehilfe” vernommen. In Hochachtung für Ihren pastoralen Dienst möchte ich Ihnen gerne darauf antworten.
Lassen Sie mich vorausschicken, dass die Idee der “Sterbeverfügung” auf meine Initiative zurückgeht. Bereits seit dem bahnbrechenden Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs im vergangenen Jahr war ich bemüht, eine möglichst lebensbejahende Lösung für dieses morbide Problem zu finden.
Zu diesem Zweck habe ich schon unmittelbar danach begonnen, Kontakt zu den in dieser Frage maßgeblichen Stellen aufzunehmen. Neben den entscheidenden Personen der Gesetzgebung in Parlament und Regierung waren dies insbesondere herausragende Juristen, sowie selbstverständlich kirchliche Würdenträger, insbesondere Kardinal Christoph Schönborn und Erzbischof Franz Lackner, der Vorsitzende der österreichischen Bischofskonferenz.
Lieber Bischof Hermann, Sie bezeichnen die “Hilfe zum Selbstmord” verständlicherweise als “kulturellen Dammbruch”. Ich pflichte Ihnen, jedenfalls was unser Land betrifft, gänzlich bei. Mit Erzbischof Lackner stimme ich überein, wenn er meint: “Wir Christen tun das nicht.” Wie auch immer wir die “Empfängnis durch den Heiligen Geist” und die “Auferstehung” verstehen, dahinter steht unsere Überzeugung, dass das Leben von der Zeugung bis zum Tod heilig ist.
Sie selbst sagen in Ihrer Predigt: “Wir verfügen weder über den Anfang, noch über das Ende unseres Lebens.” Wir Christen glauben fest daran und sind vollkommen überzeugt davon, dass es etwas Größeres gibt, das unsere Schöpfung bestimmt. Wie Papst Franziskus im Jahr 2015 vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen erklärte: “Gemeinsam mit den anderen monotheistischen Religionen glauben wir Christen, dass das Universum aus einer Entscheidung der Liebe des Schöpfers hervorgegangen ist, der dem Menschen erlaubt, sich respektvoll der Schöpfung zu bedienen zum Wohl seiner Mitmenschen und zur Ehre des Schöpfers.” Dies ist unsere feste gemeinsame Basis.
Und damit kommen wir zu unserer Herausforderung. “Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Die Entscheidung, ob das Leben sich lohne oder nicht, beantwortet die Grundfrage der Philosophie.” Dies schreibt Albert Camus zu Beginn seines Buches “Der Mythos von Sisyphos”. Unsere Antwort als Christen ist ein unumstößliches “Ja”. Das Leben lohnt sich von der Zeugung bis zum Tod, weil es an sich heilig ist. Dies ist und bleibt unverhandelbar, trotz aller Widrigkeiten, trotz aller Opfer, trotz aller Leiden. “Trotzdem ja zum Leben sagen”, antwortet Viktor Frankl selbst nach der Hölle von Auschwitz.
Was tun wir jedoch, wenn ein Mensch diese Überzeugung nicht teilt? Was tun wir, wenn ein Mensch sich zum Herrn über das Leben macht, sei es zu Beginn oder am Ende? Was tun wir, wenn ein Mensch das Leben beendet, sei es im Mutterleib oder im Sterben? Was tun wir, wenn ein Mensch sein ungeborenes Kind oder sich selbst tötet? Was sollen wir tun?
Seit der Aufklärung haben wir die Trennung zwischen Staat und Religion, in Österreich, in Europa, sowie auf der Welt. Seit damals leben wir die Trennung zwischen Recht und Moral. Seit damals entscheidet der Staat, was der Mensch “darf” und die Religionen darüber, was der Mensch “soll”. Der österreichische Verfassungsgerichtshof hat im letzten Jahr erkannt, dass der Mensch sich selbst töten darf. Daraus ergibt sich zwingend, dass ihm dabei geholfen werden darf.
Dieses Erkenntnis war zu erwarten, und ich persönlich halte es für wohldifferenziert und ausgewogen. Ob es uns als Christen gefällt oder nicht, der Mensch hat das Recht, sich selbst zu töten. Dies ist nur allzu stimmig, denn der Mensch hat ebenso das Recht, im Notfall sein Kind im Mutterleib zu töten. Der Mensch hat in Österreich das Recht, notfalls sein ungeborenes Kind, sowie sich selbst zu töten. Das haben wir als Christen zu akzeptieren.
Dies war die herausfordernde Vorgabe des VfGH vom letzten Jahr. Die Aufgabe war nun, jeglichen Missbrauch dabei auszuschließen. Bei der Suche nach einer geeigneten Lösung für dieses schwierige Problem kam mir Homers “Odyssee” in den Sinn, namentlich Odysseus’ Versuchung durch die Sirenen.
In jener Episode der Odyssee wird das Grundproblem des Menschen behandelt, zwischen langfristiger Einsicht und kurzfristiger Verführung zu entscheiden. Odysseus hatte bereits zuvor gewusst, dass ihn die Sirenen beim Vorbeisegeln mit ihrem Gesang verführen würden. Er hatte daher seinen Getreuen befohlen, ihre Ohren mit Wachs zu verschließen und ihn am Mast festzubinden. Er hatte ihnen eingeschärft, ihn unter keinen Umständen loszubinden, selbst wenn er dies während der Vorbeifahrt von ihnen verlangen würde. Als die Situation eintrat, bettelte er darum, losgebunden zu werden und widerrief seinen Befehl. Doch seine Getreuen hörten in dieser Situation nicht auf ihn, sondern erinnerten sich an seine Anweisung davor. So konnten sie der Verführung widerstehen und wurden gerettet.
Diese Geschichte liegt der Idee der “Sterbeverfügung” zugrunde. Odysseus hatte bereits ZUVOR selbstbestimmt verfügt, wie in der kritischen Situation zu verfahren wäre. Gleiches geschieht in der “Sterbeverfügung”. Der Mensch hat bereits ZUVOR zu entscheiden, wie in der kritischen Situation zu verfahren ist. Unterlässt er dies, so darf er nicht losgebunden werden. Verfügt er dies jedoch ZUVOR selbstbestimmt, dann ist dies nicht nur zu akzeptieren, sondern auch zu respektieren.
Abgesehen vom Problem des Missbrauchs, der durch dieses Modell prinzipiell ausgeschlossen und daher im Detail verhandelbar ist, stellt sich für uns Christen dabei das grundlegende Problem, dass ein Mensch sein Leben selbst beenden will. Wie wollen wir damit umgehen? Wie sollen wir damit umgehen?
Bei der “Hilfe zum Selbstmord” schließt sich nun zum Lebensende der Kreis, der mit dem “Schwangerschaftsabbruch” zu Beginn des Lebens begonnen hat. Wie sollen wir damit umgehen, wenn jemand sich oder sein ungeborenes Kind töten will? Wie wollen wir damit umgehen?
Damit kommen wir wieder auf die “Empfängnis durch den Heiligen Geist” und die “Auferstehung” zurück. Wir Christen werden dabei mit den Grundfesten unseres Glaubens konfrontiert, mit unserem “Geheimnis des Glaubens”.
Wie wollen wir mit Menschen umgehen, die aus der Not heraus töten? Wie wollen wir mit Menschen umgehen, die ihr ungeborenes Kind oder sich selbst töten? Wollen wir sie wirklich gnadenlos bestrafen? Oder wollen wir ihnen in aller Barmherzigkeit helfen? Und was tun wir, wenn sie unsere Hilfe, trotzdem ja zum Leben zu sagen, nicht annehmen und dennoch aus der Not heraus töten? Wollen wir es ihnen schwer machen oder leicht?
Ich stimme mit allen Christen überein, es jedem Menschen so leicht wie möglich zu machen, trotzdem ja zum Leben zu sagen, egal, ob zu Beginn des Lebens oder an seinem Ende. Was aber, wenn sich ein Mensch dennoch dagegen entscheidet? Wollen wir ihn bestrafen?
Lieber Bischof Hermann, ich selbst war in meinem Leben bereits in der Situation, mich umbringen zu wollen. Im Februar 2005 nahm ich an einem Donnerstagmorgen eine massive Überdosis Schlaftabletten, um zu sterben. Am Sonntag in der Früh erwachte ich wieder, “am dritten Tage nach der Schrift”. Heute bin ich dankbar, dass ich überlebt habe und werde daher keine “Sterbeverfügung” beantragen.
Als Bischof von Innsbruck möchte ich es Ihnen mit folgendem Gleichnis erzählen: Ich werde diesen beschwerlichen Weg zum Gipfel nicht vorzeitig abbrechen, um mich auf meiner Tour kurz zuvor vom Helikopter abholen zu lassen. Ich möchte dieses Leben, einem Marathonläufer gleich, bis zum Schluss durchstehen, um das Ziel mit letzter Kraft selbst zu erreichen. Ich bin nicht den ganzen Weg gegangen, um kurz vor dem Ende aufzugeben. Ich will dieses Leben selbstbestimmt bis zum Ende durchlaufen, weil ich weiß, dass der Lohn dieser Mühe auf mich wartet. Ich will den Sieg meines Lebens selbst erleben.
Was aber geschieht mit jenen, die das Leben vorzeitig abbrechen wollen? Was geschieht mit jenen, die sich selbst töten? Was geschieht mit jenen, die Selbstmord begehen und den Freitod wählen, wie auch immer wir es nennen? Was geschieht mit den Selbstmördern? Was geschieht nach dem Selbstmord?
Somit sind wir bei der entscheidenden Frage unseres Glaubens angelangt: In der Nacht zum Karfreitag wurde Jesus nach dem “letzten Abendmahl” von zwei seiner Jünger betrogen. Es waren dies Judas Iskariot, der Jesus verriet, und Simon Petrus, der Jesus verleugnete. Beide bereuten ihre Tat, Petrus “ging hinaus und weinte bitterlich” (Mt 26,75), Judas dagegen “erhängte sich” (Mt 27,3). Simon Petrus bereute sein Verhalten, um danach der “Fels unserer Kirche” zu werden. Judas Iskariot dagegen bereute, indem er das Blutgeld zurückgab und seinem Leben ein Ende setzte.
Lieber Bischof Hermann, hiermit stelle ich Ihnen dieselbe Frage, die ich Erzbischof Lackner gestellt habe: Woran glauben wir? An welchen Gott glauben wir? Glauben wir an den strafenden oder an den barmherzigen Gott? Ist die Grundlage unseres Glaubens der Himmel oder die Hölle? Judas hat Jesus verraten. Er hat dies bereut und sich umgebracht. Er hat “Selbstmord” begangen.
Lieber Bischof Hermann, ich frage Sie: Wie ist Gott mit Judas verfahren? Hat Gott ihn bestraft oder war Gott barmherzig? Oder trifft beides zu? War der Selbstmord Strafe genug? Hat Gott Judas nach seinem Selbstmord in den Himmel aufgenommen? Hat Gott ihm inzwischen vergeben? Ist Judas inzwischen im Himmel?
“Gemeinsam mit den anderen monotheistischen Religionen glauben wir Christen, dass das Universum aus einer Entscheidung der Liebe des Schöpfers hervorgegangen ist, der dem Menschen erlaubt, sich respektvoll der Schöpfung zu bedienen zum Wohl seiner Mitmenschen und zur Ehre des Schöpfers.”
Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.
Deus Caritas Est, Gott ist die Liebe.
Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Barmherzigen.
Die Antwort ist: Ja.
Ich wünsche Ihnen von Herzen alles Liebe
Peter Wurm
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