Meine Freunde und Helden

Hermes Massimo war ein alter Freund meines Vaters. Er war ein promovierter Philosoph, der im Dritten Reich in Norwegen zum Tod verurteilt wurde. Sein Vergehen war, im norwegischen Narvik, das von der Deutschen Wehrmacht besetzt worden war, in Richtung Russland zu blicken und vor den anderen Soldaten auszusprechen: „Dorthin führt uns unser nächster Krieg.”

Dieses Delikt galt damals als „Vaterlandsverrat”. Hermes wurde zum Tode verurteilt. Die Wochen vor der Hinrichtung hatte er in einem engen Schacht in der Erde zu verbringen. In dieser qualvollen Zeit beschäftigte er sich gedanklich mit Mathematik. Hermes erzählte mir in hohem Alter davon, dass er dabei auf eine mathematische Formel gestoßen war, die die logische Form von Binominalkoeffizienten beschreibt. Irgendwann später erfuhr er, dass diese Formel bereits als das „Pascal’sche Dreieck” bekannt geworden war.

Seine Begnadigung verdankte er seinem Generalleutnant, der von seiner Unbeugsamkeit und Standhaftigkeit beeindruckt war. Er bot Hermes die Begnadigung durch den Führer an, die er mit „Heil Hitler” zu unterzeichnen hatte. Hermes verweigerte dies, indem er sagte: „Ich unterschreibe nicht mit Heil Hitler.” Daraufhin unterzeichnete der Generalleutnant selbst.

Hermes wurde in eine sogenannte „Todeskompanie” versetzt, die er an der Ostfront mit einem Kopfschuss und nur einem Auge überlebte, als er einen Kameraden aus der Todesgefahr rettete. Zu Kriegsende sorgte er in Innsbruck gemeinsam mit einer kleinen Gruppe um den späteren österreichischen Außenminister Karl Gruber dafür, dass Tirol der einzige Gau des Deutschen Reiches war, der sich selbst befreite, bevor die Aliierten kamen.

Wenn Hermes bei uns gemeinsam mit anderen Freunden meiner Eltern eingeladen war, saß er meistens schweigend am Mittagstisch und antwortete nur, wenn er direkt gefragt wurde. Das Angebot meiner Eltern, ihn danach nach Hause zu chauffieren, lehnte er dankend ab und sagte: „Ich gehe lieber zu Fuß.” Während meiner Studienzeit besuchte ich ihn dann immer wieder alleine. Dabei saßen wir in seiner kleinen Wohnung, die übervoll mit Büchern war, am kleinen Tisch und unterhielten uns oft bis weit nach Mitternacht über Gott und die Welt.

Nach seiner Pensionierung als Leiter der Bibliothek des Österreichischen Patentamtes verbrachte er jeden Sommer in Island, wo er noch vor seinem Tod den Aufbau der Universitätsbibliothek von Reykjavik mit organisierte. Als ich vor einigen Jahren zur Sommersonnenwende in Island war, besuchte ich diese Bibliothek und fand in der deutschsprachigen Abteilung ein paar der Bücher aus seiner ehemaligen Wiener Wohnung.

Anders als Hermes glaubte mein Freund Hans Marsalek nicht an Gott. Hans war der wahrscheinlich wichtigste österreichische Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, der selbst im KZ noch den Widerstand organisierte. Ihn hatte ich im Jahre 1994 kennengelernt, als ich im Zuge unserer Film-Dokumentation „Herbstspaziergang” über das Konzentrationslager Mauthausen zu recherchieren begann. Das Leben von Hans ist in Österreich gut bekannt. Er ist das größte Vorbild meines Lebens.

Der Dritte in dieser Reihe ist der österreichische Bildhauer Karl Prantl. Ihn lernte ich um die Jahrtausendwende kennen, nachdem ich für die Demonstrationen gegen die „Schwarz-Blaue Regierung” die Skulptur „das bunte haus” gebaut hatte. Karl Prantl war in Österreich öffentlich nie so bekannt wie sein Kollege Alfred Hrdlicka. Im Unterschied zu Hrdlicka arbeitete Prantl nicht „figurativ”, sondern „abstrakt”. Er hatte sein Atelier im burgenländischen Pöttsching, das mitsamt seinem Skulpturengarten bis heute öffentlich zugänglich ist.

Als wir uns über seine Arbeit unterhielten, sagte er zu mir: „Weißt Du, Peter, ich war als junger Mann mit meinem Freund an der Front. Als wir gemeinsam im Schützengraben standen, hatten wir einmal einen Granatenangriff abzuwehren. Wir kauerten uns auf dem Boden zusammen, bis der Angriff vorbei war. Als ich aufstand, sah ich meinen Freund, wie er tot neben mir lag und ihm das Hirn aus dem Kopf geronnen ist. Verstehst Du, warum ich nicht „figurativ” arbeite? Ich kann nicht. Ich mache es auf meine Art.”

An diese drei, an Hermes Massimo, Hans Marsalek und Karl Prantl denke ich immer wieder. Ich erinnere mich mit großer Dankbarkeit an sie, an meine Gespräche mit ihnen und vor allem auch an ihr Schweigen. Wenn ich unsere Zeit und unsere Zeitgenossen betrachte, dann geben mir diese drei, meine Freunde und Helden, immer wieder großen Rückhalt. Und wenn ich an das heutige Europa und seine Politik gegenüber Russland denke, dann erinnere ich mich an den Satz von Hermes: „Dorthin führt uns unser nächster Krieg.“ Dann denke ich an Hans Marsaleks Widerstandskraft und Karl Prantls Steine. Ich mache es auf meine Art.

peterwurm.wordpress.com

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