Putin gegen Nawalny

Bild: ORF

Uvazhayemyy Gospodin Prezident Putin!

“Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust,” lässt Johann Goethe seinen Faust seufzen, als dieser vor einem Dilemma steht, das später durch Sigmund Freud als der Kampf zwischen dem “Es” und dem “Über-Ich” beschrieben wurde. Wenn ich an diesem Wochenende nach Russland blicke, dann kommt mir dieses Zitat in den Sinn. Da spielt gerade das Match Dynamo Putin gegen Torpedo Nawalny, und ich weiß nicht, zu wem ich halten soll.

Mein Europa United hofft, dass Torpedo gewinnt. Dies geschieht aus taktischen Gründen, weil Dynamo ein starker Konkurrent um die Weltmeisterschaft ist. Auch die Biden Bulls unterstützen Torpedo nach Kräften, weil ihnen ein starkes Dynamo ebensowenig gelegen kommt. So viel Einigkeit auf Seiten der Westtribüne macht mich skeptisch.

Lieber Wladimir Wladimirowitsch, auch wenn ich in meinem Herzen ein Revolutionär bin, halte ich zu Ihnen. Ich bin ein Fan von Dynamo Putin. Warum?

Es gibt dafür ein paar Gründe: Erstens hat Dynamo Putin die Vorherrschaft des FC Mafia beendet. Als Sie, lieber Wladimir Wladimirowitsch, am Neujahrstag des Jahres 2000 an die Macht kamen, lag die Russische Föderation gefangen im Strudel des Abstiegskampfes aus der Weltgruppe. So sehr ich Boris Nikolajewitsch persönlich von Herzen mochte, war das Ende der Ära Jelzin ein Segen für das Land. Niemand im Westen kann sich vorstellen, welche persönlichen und wirtschaftlichen Katastrophen das Machtvakuum nach dem Zusammenbruch des Kommunismus mit sich brachte. Wenn sich meine links-liberalen Freunde immer wieder über Ihre Politik echauffieren, dann frage ich immer nur beiläufig: “Wieviele Zeitzonen hat Russland?”

Lieber Wladimir Wladimirowitsch, wir im wohlhabenden Westen können uns überhaupt nicht vorstellen, wie anders die Probleme außerhalb Westeuropas gelagert sind. Und, selbstbezogen, wie wir sind, haben wir auch null Interesse, das zu erfahren. Meine links-liberalen westlichen Wohlstandsfreunde glauben nämlich, man könne Russland genauso regieren wie Wien-Mariahilf, München-Schwabing, Hamburg-Blankenese oder Berlin-Schöneberg. Dabei bringen wir es nicht einmal dort zustande, dass sich die Radfahrer an die Regeln halten.

Wie schafft man Frieden in Tschetschenien? Wie schützt man sein Land vor der Kontrolle durch die NSA? Wie stabilisiert man den Rubel gegen den US-Dollar? Wie verhilft man dem Rechtsstaat in Russland zum Durchbruch? Wer Wladimir Putin wegen seiner Politik verdammt, der hat weder die Russische Föderation noch die Weltpolitik begriffen. Lieber Wladimir Wladimirowitsch, ich dagegen habe höchsten Respekt vor Ihnen.

Das heißt nicht, dass man Alexei Nawalny gleich vergiften muss. Ich persönlich halte Alexei Anatoliewitsch zwar, gelinde gesagt, politisch für einen “Rechtspopulisten”, wie man bei uns die Halbfaschisten euphemistisch nennt. Und persönlich ist er sicherlich, wie man bei uns in Wien sagt, eine “Krätz’n”, auf Deutsch eine “Nervensäge”, auf Englisch “a pain in the ass”. Ich hege keine Sympathie für seine Politik. Aber den Tod wünsche ich ihm dennoch nicht.

Soeben kommt eine Nachricht der “Süddeutschen Zeitung” herein: “Nawalny-Proteste von der Ostsee bis zum Pazifik: In ganz Russland demonstrieren Zehntausende gegen Putin.” Zehntausende in ganz Russland? Das mag die süddeutschen Seeleute begeistern, als Präsident der Russischen Föderation dagegen würde ich mir jetzt gelassen einen Joint genehmigen. Zehntausende in ganz Russland? Das sind pro Zeitzone vielleicht knapp mehr als Tausend.

Ach, lieber Wladimir Wladimirowitsch, wenn ich mich in Sie heute hineinversetze, dann würde ich mir einzig die Frage nach meinem Nachfolger stellen. Wie gelingt “the peaceful transition of power” im Mütterchen Russland? Die nächste Wahl werden Sie wohl gewinnen, doch was dann? Der Westen will offensichtlich Alexei Nawalny als Ihren Nachfolger. Doch was wollen Sie?

Lieber Wladimir Wladimirowitsch, ich erlaube mir daher, Ihnen nur eine einzige Frage zu stellen: Welcher Nachfolger wäre Ihnen lieber als Alexei Anatoliewitsch?

Ich freue mich, diese Entscheidung ab sofort mitverfolgen zu dürfen.

S uvazheniyem k Moskve

Peter Wurm

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