Wissen Sie, Anton Pawlowitsch, warum ich Kinder liebe? Kinder öffnen uns Erwachsenen die Augen. Irgendwann kommen sie in ein Alter, in dem sie die spannendste Frage entdecken, die wir Menschen erfunden haben: Die Frage “Warum?”
Alle anderen Fragen des Menschen haben ein Ende. Die Frage “Wer?” ist am schnellsten zu beantworten, da braucht es nur eine einzige Antwort. Dann gibt es die Frage “Wie?” Diese Frage braucht möglicherweise ein paar Nachfragen, um beantwortet werden zu können. Aber die Frage “Warum?” eröffnet den Blick in die Unendlichkeit. Die Frage “Warum?” kann endlos weiter gestellt werden.
Wenn also ein kleines Kind in das Alter kommt, in dem es die “Warum?” Frage kennenlernt, dann hat es den Anfang und das Ende der Welt entdeckt. Jedes Kind geht verschieden damit um, und doch alle Kinder gleich. Irgendwann entdeckt jedes Kind, dass diese Frage endlos lange weiter gestellt werden kann. Und so komme ich auf Arthur Schopenhauer zu sprechen:
Arthur Schopenhauer war der erste und einzige Mensch, der entdeckt hat, wohin diese Frage führt. Jeder andere Mensch auf der Welt vor ihm dachte, dass die Frage mit einer Erkenntnis beantwortet wird. Lange dachte man, diese Erkenntnis würde bei “Gott” landen. Selbst der Buddha, der Begründer der einzigen gottlosen Religion, endete bei der “Warum?” Frage bei “Gott”. Doch während alle anderen Menschen die Frage schlussendlich mit “Jahwe”, “Gott” oder “Allah” beantworteten, hörte der Buddha einfach auf zu antworten. Und als sein Sohn weiter fragte, da verzog sich der Buddha in den Wald und verschwand.
In der europäischen Aufklärung vor 250 Jahren begann der Mensch, wie Immanuel Kant es nannte, “selbst zu denken”. Die Frage nach dem “Warum?” wurde nicht länger mit “Weil Gott es so will,” beantwortet. Die Frage wurde auf uns selbst zurückgeworfen. Die Antwort des aufgeklärten Erwachsenen war seit damals: “Denke selber darüber nach.” Seitdem haben wir Menschen die “Wissenschaft” wie nie zuvor vorangetrieben.
Nun brachte die Generation Immanuel Kants zwei grundverschiedene Geisteskinder hervor: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, dem seine Eltern drei sehr bedeutende Vornamen mitgegeben hatten. Und Arthur Schopenhauer. Beide hatten von ihrem Vater Immanuel Kant eine Aufforderung mitbekommen: “Wage, selbst zu denken!” Doch während Hegel glaubte, es ginge bei dieser Aufforderung um das “Denken”, wusste Schopenhauer, worum es bei dieser Aufforderung wirklich ging: Es ging um das “Wagen”. So begann das Hegel-Kind zu “denken”, und mit ihm ganz Deutschland, dann ganz Europa, und schließlich die ganze Welt.
Das Schopenhauer-Kind dagegen begann zu “wagen”. Und es wagte auszusprechen, wovor der Buddha in den Wald geflohen war. Das kleine Schopenhauer-Kind beantwortete die Frage endlich gültig.
“Warum?” Alle Religionen beantworten diese Frage unserer Kinder mit einem jenseitigen Gott, alle Wissenschaften beantworten diese Frage mit einer diesseitigen Vernunft. Nur Arthur Schopenhauer war in der Lage, diese zwei verschiedenen Antworten unserer beiden Eltern zusammenzuführen.
“Warum?”
Weil wir wollen.
Ich danke Ihnen, Anton Pawlowitsch, dass Sie mir zugehört haben. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.
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